Süpertunes
Markovic Orkestar & Heimatlieder
Vater und Sohn erobern die Welt – was wie ein Märchen klingt, ist bei den Markovićs aus Südserbien längst Realität geworden. Ihr musikalisches Manifest: Balkanparty. Nach einer umjubelten Konzertnacht in der Komischen Oper Berlin kommt nun endlich die CD zum Projekt “Heimatlieder aus Deutschland”. Voller wundervoller Kindheitserinnerungen, die man so noch nie gehört hat.
Boban i Marko Markovic Orkestar: “Gipsy Manifesto” (Piranha/Alive)
Mit Pauken und vor allem ihren Trompeten sind sie losgezogen. Und haben es von ihrem kleinen Romadorf in Serbien bis zum Filmfestival von Cannes gebracht: Boban, der Vater, und Marko, der Sohn. Der mittlerweile 49-jährige Boban ist in Serbien ein Superstar. Er stammt aus einer Roma-Familie mit einer langen Musikantentradition. Bereits sein Großvater war im Serbien der 30er Jahre ein gefeierter Trompeter. Nun kommt also die nächste Generation, denn Bobans Sohn Marko (27) ist seit mittlerweile zehn Jahren der heimliche Chef des gemeinsamen Orkestars.
Filmstars vom Dorf
Marko Marković hat vor sechs Jahren die Hauptrolle im Spielfilm Gucha übernommen, einer Art Romeo-und-Julia-Geschichte, die im serbischen Dorf Gucha spielt. Dort findet jedes Jahr das legendäre Trompetenfestival statt, ein Battle der besten Gipsy-Bands. Im Film ist Marko am Schluß der Sieger. Im echten Leben war es der Vater schon sehr oft: Vier Mal hat Boban in Gucha die Goldene Trompete gewonnen. Er trägt jetzt den Titel “Master of the Trumpet” und tritt in Gucha nur noch außer Konkurrenz an. Filmfans kennen ihn auch aus dem Streifen “Underground” von Emir Kusturica.
Freie Bahn für Vater und Sohn
Boban und Marko geben richtig Gas auf ihrem neuen Album, davon zeugt schon der erste Titel mit dem programmatischen Namen “Turbo Diesel”. Nachdem Mitbewerber Shantel seinen Sound verändert hat, gibt es jetzt erst Recht freie Bahn für die Markovics in Punkto Balkanpop. Denn sie verstehen ihr Handwerk perfekt, wissen, wie man Dynamik aufbaut. Also nicht nur Speedbrass, sondern auch erstaunliche Abstecher in die Bereiche Funk (“Fankerica Smekerica”) und Afrobeats (“Afrika Paprika”) sind Teil des Gesamtskonzepts. Daß man mit diesem “Gipsy Manifesto” wirklich den Weltmarkt im Blick hat, zeigt sich auch den den englischen Vocals auf einigen Stücken.
Party statt Kritik
Kritische Songtexte zur Situation der Roma in Ländern wie Ungarn oder Rumänien kann man von diesem Werk nicht erwarten. Es ist eine Partyplatte, die vor Selbstbewußtsein und Spaß strotzt. Aber es spricht schon für sich, wenn Vater und Sohn im Song “Od Hana do Cana” (“Von Han nach Cannes”) von ihrem Siegeszug berichten – aus ihrem kleinen Romadorf in der Region Vladicin Han zum Filmfestival von Cannes. Man ist in der Familie Marković stolz auf das Erreichte – und will natürlich weiter Gas geben. Das hat man auch eindrucksvoll auf der Musikmesse Womex in Cardiff gezeigt: Da ist Marko mit seiner Trompete im Anschlag quer durch die Messehallen gezogen und alle haben hingehört.
V.A.: “Heimatlieder aus Deutschland” (Run United/Kontor Media)
So viele Erinnerungen, so viele Geschichten! Und immer eine Ausgangsfrage: Welche Bedeutung hatte die Musik ihrer Heimat für die ins fremde Deutschland eingewanderten Gastarbeiter? Darauf gibt es nicht nur eine einzige Antwort, sondern ein ganzes Bündel. Griechenland, Italien, Kroatien, Marokko, Mosambik, Polen, Portugal, Serbien, Spanien, Südkorea, Türkei, Vietnam. Daher stammen die Chöre und Bands, die auf dieser CD vertreten sind. Das Ganze startete als Livekonzept, dem “Heimatabend”. Initiiert wurde beides vom Berliner Labelmanager Jochen Kühling und dem Journalisten und früheren Funkhaus Europa Moderator Mark Terkessidis.
Angeworben, um zu bleiben
“Das Singen von Liedern aus den Herkunftsregionen war bei den ‘Gastarbeitern’ in Deutschland ein wichtiges Element des Community-Lebens. Es diente auch dazu, sich neu zu verorten”, so Terkessidis. Alle Teilnehmer am Projekt kommen aus jenen Ländern, mit denen die beiden deutschen Staaten jeweils Anwerbeabkommen hatten. Etwa Krankenschwestern aus Südkorea, Fabrikarbeiter aus der Türkei, Hilfskräfte aus Mosambik oder Vietnam. So klingt Berlin nach 1989, und zwar das ganze Jahr über, nicht nur während des “Karnevals der Kulturen”; eine Zurschaustellung übrigens, die Mit-Initiator Kühling gar nicht mag. Er betont die Normalität des Ganzen – jenseits des Schlagworts “Migration”. Genauso, wie es normal ist, wenn Juri aus Sankt Augstin oder Sibell aus Hamburg bei “The Voice of Germany” antreten.
Berlin oder Havanna?
Sogar die überheizte Botschaft der Republik Kuba wurde zum Schauplatz der Recherche. Für das Heimatlieder-Projekt haben sich beispielsweise drei kubanische Bandleader aus Berlin zusammengetan, die schon seit Jahren in den unterschiedlichsten Formationen unterwegs sind. Sie singen alte kubanische Lieder, die in Kuba fast jeder kennt. Das Ergebnis erinnert natürlich an die Musik des “Buena Vista Social Club” aus Havanna. Percussionist Ricardo arbeitete früher in einer DDR-Textilfabrik. Nach dem Mauerfall 1989 musste er sich zwischen Familie in Kuba oder persönlicher Freiheit in Deutschland entscheiden. Er ist schweren Herzens in Berlin geblieben. Aber im nächsten Jahr fliegt er zum ersten Mal nach 22 Jahren wieder zurück nach Kuba.
Kindheitserinnerungen
Das Duo Sandra Stupar und Dusica Gačić hat sich im Chor der serbisch-orthodoxen Kirche kennengelernt. Und seit drei Jahren singen die beiden jetzt zusammen, weil ihre beiden Alt-Stimmen auch ziemlich gut zusammen passen. Für Sandra enthalten diese traditionellen, serbischen A-capella-Lieder mit Oberton-Charakter Erinnerungen an die Kindheit im früheren Jugoslawien. “Wenn ich diese Lieder singe, dann denke ich an Berge, Flüsse und Freiheit”, sagt sie. Sie tauche praktisch ab in eine andere Welt und ihr Ziel ist es, auch andere Menschen damit zu berühren.
Remix-Album kommt
Zum Heimatlieder-Projekt erscheint auch eine Remix-CD, auf der es entschieden elektronischer zur Sache geht. Produzenten wie Mathias Aguayo, Gudrun Gut und die Jungs von Symbiz Sound betrachten und interpretieren die Originale nochmal ganz neu. Mark Terkessidis freut sich auch über das Ergebnis der Studioaufnahmen: “Keiner der Beteiligten hatte zuvor professionell Aufnahmen in einem Studio gemacht”. Wem die Heimatlieder-CD also zu chorlastig ist, der sollte zu den Remixen greifen. Insgesamt gilt: Was im Titel fast nach deutscher Volksmusik klingt, ist in Wirklichkeit eine riesige Wundertüte. Mit vielen “Voices of Germany”.
(Stefan Müller)